Geschichte der Kinderchirurgie

Vor dem 19. Jahrhundert gab es nur einzelne Chirurgen, die sich auch mit angeborenen Fehlbildungen und chirurgischen Erkrankungen bei Kindern beschäftigt haben. So ist aus dem 10. Jahrhundert eine Lehrbuchsammlung von Albucasis aus Cordoba (damals Kalifat einer Dynastie in Damaskus, jetzt spanisch) überliefert mit Beschreibung der Krankheitslehre (Pathologie) und Behandlung (Therapie) von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Wasserkopf (Hydrocephalus), Rachen- und Gaumenmandeln (Adenoiden), Mundbodenzyste (Ranula), Brustdrüsenschwellung beim Jungen (Gynäkomastie), Vorhautverengung (Phimose), Störung der Geschlechtsdifferenzierung („Hermaphroditen“), Fehlen des Darmausganges (Analatresie) und Vielfingerigkeit oder Verwachsung von Fingern oder Zehen (Poly- und Syndaktylie).

„Kinderchirurgie“ bestand zu dieser Zeit hauptsächlich aus Operationen wegen eitriger Knochenentzündung (Osteomyelitis), Knochenbrüchen oder Entlastung von Eiteransammlungen (Abszessen). Kinder mit angeborenen Fehlbildungen wurden als Absonderliche oder Kuriositäten betrachtet. Operationen lebensbedrohlicher Fehlbildungen endeten zumeist mit dem Tod des Patienten.

Einige Meilensteine:

  • 1465: Şerafeddin Sabuncuoğlu veröffentlicht in der Türkei einen Operationsatlas Cerrahiyyetu'l-Haniyye, in dem auch zahlreiche Eingriffe an Kindern beschrieben sind
  • 1630: Mosnier wird in Lyon von Louis XIII. als Kinderchirurg eingesetzt
  • 1802: Gründung einer Kinderchirurgie in Paris (Hôpital des Enfants Malades) auf ein Dekret von Napoleon Bonaparte

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich auch erste kinderchirurgische Keimzellen in Deutschland:

  • 1815: Erlangen (Bernhard Nathanael Gottlob Schreger)
  • 1863: Nürnberg (Julius Cnopf)
  • 1882: Stuttgart (Prof. v. Köstlin)
  • 1884: Heidelberg (Theodor von Dusch)
  • 1889: Leipzig (Robert Hermann Tillmans)

In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fallen die entscheidenden ersten Operationen großer angeborener Fehlbildungen:

  • 1911: Magenpförtnerkrampf (hypertrophe Pylorusstenose) durch Conrad Ramstedt, Münster
  • 1941: Unterbrechung der Speiseröhre (Ösophagusatresie) durch Cameron Haight, Ann Arbor
  • 1944: Angeborene Herzfehlbildung „Fallot-Tetralogie“ durch Alfred Blalock, Baltimore
  • 1946: Lücke im Zwerchfell (Zwerchfellhernie) durch Robert E. Gross, Boston

Wesentlichen Aufschwung erhielt die Chirurgie an kranken Kindern und vor allem an Neugeborenen mit Fehlbildungen durch die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkommende und sich spezialisierende Intensivmedizin sowie die Möglichkeit, lebensbedrohende Entzündungen mit Antibiotika zu behandeln.

Die Kinderchirurgie in Deutschland wurde geprägt von einigen innovativ tätigen Klinikdirektoren:

  • Prof. Dr. med. Anton Oberniedermayr, München, gleichzeitig auch erster Präsident der 1963 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie.
  • Prof. Dr. med. Fritz Rehbein, Bremen, der einer der weltweit führenden Kinderchirurgen seiner Zeit war. Er führte 1951 die erste Operation einer Speiseröhrenunterbrechung (Ösophagusatresie) in Deutschland durch. Ferner veröffentlichte Rehbein innovative Operationsverfahren zum M. Hirschsprung, zur Trichterbrust und zur Hiatushernie. Sein Lehrbuch von 1976 war lange Zeit ein unverzichtbarer Ausbildungsstandard.
  • Prof. Dr. med. Fritz Meißner, Leipzig, gründete 1964 die Sektion Kinderchirurgie der Gesellschaft für Chirurgie der DDR, aus der 1985 die selbständige Gesellschaft für Kinderchirurgie der DDR entstand. Er hat wesentlich zur Vereinigung der beiden kinderchirurgischen Fachgesellschaften Deutschlands ab 1989 beigetragen.
  • Prof. Dr. med. Andreas Flach, Tübingen. Sein Schüler Paul Schweizer formulierte in seinem Nachruf: „Er war eine Autorität, aber nicht autoritär. Und: Er stellte uneingeschränkt die Person seiner Patienten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und Tätigkeit.“
  • Prof. Dr. med. Waldemar Hecker, München, erster kinderchirurgischer Lehrstuhlinhaber (Ordinarius, 1969).

Insgesamt muss sich die Kinderchirurgie schon immer und weltweit gegenüber den benachbarten chirurgischen Fachgebieten behaupten. Die ersten „Kinderchirurgen“ waren alle zunächst Chirurgen, die sich die Chirurgie der Kinder und Jugendlichen zu ihrer Hauptaufgabe gemacht haben, die aber deshalb nicht selten belächelt und geringgeschätzt wurden.

Um das Besondere der Kinderchirurgie deutlich zu machen, wurde 2001 beim Kongress der weltweiten Vereinigung der Kinderchirurgischen Fachgesellschaften (World Federation of Associations of Pediatric Surgeons, WOFAPS) in Kyoto eine Erklärung verabschiedet:

DECLARATION OF PEDIATRIC SURGERY
Children are not just small adults and have medical and surgical problems and needs that are often quite different from those encountered by adult physicians. Infants and children deserve the very best medical care available. Every infant and child who suffers from an illness or disease has the right to be treated in an environment devoted to their care by a pediatric medical or surgical specialist. Kinder sind nicht einfach nur kleine Erwachsene und haben medizinische und chirurgische Probleme und Bedürfnisse, die sich oft sehr von denen unterscheiden, welche Ärzte aus der Erwachsenenmedizin antreffen. Säuglinge und Kinder verdienen die allerbeste medizinische Versorgung, die verfügbar ist. Jeder Säugling und jedes Kind, das an einer Krankheit leidet, hat das Recht auf eine ihm entsprechende Behandlung durch einen Kinderarzt oder Kinderchirurgen.
Pediatric Surgeons are specially trained physicians with extensive experience and the greatest expertise in treating infants and children of all ages (from the neonatal period through adolescence) with surgical disorders. Because of their unique training pediatric surgical specialists provide a wide range of treatment options and the highest quality care to children. Kinderchirurgen sind speziell ausgebildete Ärzte mit umfassender Erfahrung und Sachverständige in der Behandlung von Säuglingen und Kindern allen Alters (von der Geburt bis hin zu Jugendlichen) mit chirurgischen Funktionsstörungen. Aufgrund ihrer einzigartigen Ausbildung verfügen spezialisierte Kinderchirurgen über eine große Bandbreite an Behandlungsmustern und so über die höchste Versorgungsqualität für Kinder.
Pediatric Surgeons diagnose, treat, and manage children's surgical needs including: surgical repair of birth defects, serious injures in children (including some that require surgery), childhood solid tumors, conditions requiring endoscopy and minimally invasive procedures, and all other surgical procedures in children including ambulatory surgery. Kinderchirurgen diagnostizieren, behandeln und bewältigen chirurgische Notwendigkeiten bei Kindern: Chirurgische Korrekturen von Fehlbildungen, schwerwiegende Verletzungen von Kindern, Tumore bei Kindern, wie Zustände, die eine Endoskopie oder minimal-invasive Behandlung benötigen, sowie alle anderen chirurgischen Eingriffe einschließlich der ambulanten Chirurgie.
In order to provide the best surgical care for infants and children, complex pediatric surgical procedures should be carried out in specialized pediatric centres with intensive care facilities appropriately equipped with modern technology. In addition to the trained pediatric surgeons, these facilities should be staffed with other multidisciplinary pediatric specialis including radiologists, anesthesiologists and pathologists. These specialized centres often provide educational postgraduate training/research and should be staffed 24 hours per day seven days per week. Um die bestmögliche Behandlung für Säuglinge und Kinder zur Verfügung stellen zu können, sollten komplexe kinderchirurgische Eingriffe in spezialisierten kinderchirurgischen Zentren mit geeignet ausgestatteter Intensivstation durchgeführt werden. Zusätzlich zu den ausgebildeten Kinderchirurgen sollten diese Einrichtungen über andere Spezialisten für die Behandlung von Kindern verfügen, wie Röntgenologen, Anästhesisten und Pathologen. Diese spezialisierten Zentren halten häufig die Ausbildung junger Ärzte und Forschungseinrichtungen vor. Sie sollten die ganze Woche rund um die Uhr dienstbereit sein.
Kyoto, 03.05.2001

Prof. Jay L. Grosfeld, M.D.
President of the W.O.F.A.P.S.

Im Sinne der Kindermedizin wurde bereits 1988 auf der ersten europäischen Konferenz „Kind im Krankenhaus“ in Leiden (Niederlande) ein Forderungskatalog von 18 Gesellschaften aus 16 europäischen Ländern und Japan aufgestellt, der sich für eine bestmögliche Behandlung von kranken Kindern einsetzt. Diese Charta hat aber keine völkerrechtliche Bedeutung.

Charta für Kinder im Krankenhaus (Leiden, Mai 1988)

Artikel 1
Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wenn die medizinische Behandlung, die sie benötigen, nicht ebenso gut zu Hause oder in einer Tagesklinik erfolgen kann.

Artikel 2
Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern oder eine andere Bezugsperson jederzeit bei sich zu haben.

Artikel 3
Bei der Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus soll allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, und ihnen soll geholfen und sie sollen ermutigt werden zu bleiben. Eltern sollen daraus keine zusätzlichen Kosten oder Einkommenseinbußen entstehen. Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu können, sollen Eltern über die Grundpflege und den Stationsalltag informiert werden. Ihre aktive Teilnahme daran soll unterstützt werden.

Artikel 4
Kinder und Eltern haben das Recht, in angemessener Art ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend informiert zu werden. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um körperlichen und seelischen Stress zu mildern.

Artikel 5
Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entscheidungen, die ihre Gesundheitsfürsorge betreffen, einbezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen medizinischen Behandlungen und Untersuchungen geschützt werden.

Artikel 6
Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut werden, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürfnisse haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenenstationen aufgenommen werden. Es soll keine Altersbegrenzung für Besucher von Kindern im Krankenhaus geben.

Artikel 7
Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht und die ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll für Kinder geplant, möbliert und mit Personal ausgestattet sein, das den Bedürfnissen von Kindern entspricht.

Artikel 8
Kinder sollen von Personal betreut werden, das durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befähigt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien einzugehen.

Artikel 9
Die Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll durch ein Team sichergestellt sein.

Artikel 10
Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respektiert werden.